Seit dem Jahr 2018 haben wir in Niedersachsen pädagogische und therapeutische Fachkräfte zu Denkzeit-Trainer:innen mit interaktioneller Zusatzqualifikation ausgebildet, die vor allem mit radikalisierten und gefährdeten jungen Menschen im ambulanten Setting gearbeitet haben. Die Herausforderungen in der Zuweisung geeigneter Klient:innen haben dazu beigetragen einen neuen und niedrigschwelligeren Ansatz zu entwickeln, um junge Menschen noch früher psychosozial zu fördern und damit dazu beizutragen, dass sie in einer komplexen Gesellschaft gut zurechtkommen.
In Zusammenarbeit mit und dank einer Förderung durch den Landespräventionsrat Niedersachsen und als Teil eines Forschungsprojekts zur Förderung von Demokratiekompetenzen in Schulen unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Beelmann entstanden die nachfolgend beschriebenen Projektangebote für Niedersachsen.
Die Denkzeit-Methode steht bereits seit 2014 als wirksame Methode für delinquente und deviante Jugendliche und Heranwachsende auf der „Grünen Liste zur Gewaltprävention“ des Niedersächsischen Justizministeriums.
Die Schule als Sozialraum ist ein Ort, an dem schulpflichtige Kinder und Jugendliche unweigerlich aufeinander treffen und sie ist ein Ort, an dem soziale und auch demokratische Kompetenzen geübt und ausgehandelt werden. Im Rahmen der im Zeitraum von 2024 bis 2026 in Niedersachsen stattfindenden CTC:RP (Communities that Care: Radikalisierungsprävention) - Schülerbefragung zur Demokratieförderung an Schulen bieten wir ab 2024 in ausgewählten Regionen in Niedersachsen unsere bereits in Berlin sehr erfolgreich etablierten Angebote für Schülerinnen und Schüler an: Zum einen unsere vielfach erprobten, primärpräventiven DenkPause-Sozialkompetenztrainings für Klassen, zum anderen unsere psychodynamisch-pädagogischen Kompetenzcoachings für ausgewählte Schüler:innen im Einzelsetting.
Das DenkPause-Sozialkompetenztraining ist ein modular aufgebautes, primärpräventives Sozialkompetenztraining für Schulklassen der 7. bis 10. Jahrgangsstufe. Es wird seit vielen Jahren erfolgreich durchgeführt, wurde kürzlich aufwändig überarbeitet sowie praktisch erprobt und ist an Berliner Schulen derzeit stark nachgefragt.
In insgesamt vier thematisch in sich abgeschlossenen Modulen und einem offenen Zusatz- und Vertiefungsmodul werden spielerisch demokratische Kernkompetenzen wie Problemlösestrategien, Perspektivenübernahme und Einfühlung, Bedeutung, Wahrnehmung und Steuerung von Affekten und Impulsen sowie moralisches Denken gemeinsam erarbeitet und ausprobiert. Über eine spielerische und methodisch vielfältige Auseinandersetzung werden die Schüler:innen angeregt sich mit sich selbst und ausgewählten Aspekten des sozialen Zusammenseins zu beschäftigen. Besonders wertvoll ist zudem die darüber stattfindende Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und sozial angemessener Strategien im Umgang mit konfliktreichen Situationen, die nachfolgend durch die ebenfalls teilnehmenden Lehrkräfte und die vor Ort bleibenden Materialien weiter gefördert werden.
Die Projekttage können flexibel stattfinden, bspw. einmal wöchentlich über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder auch innerhalb einer Woche (mit zeitlichem Abstand zu Modul 5) organisiert werden. Um möglichst flexibel auf die Bedarfe, aber auch etwaige Krisensituationen eingehen zu können, wird DenkPause immer von zwei erfahrenen Trainer:innen im Tandem durchgeführt.
Modul 1 „Probleme erkennen und über Handlungsmöglichkeiten nachdenken“
beinhaltet u. a.: Erarbeitung von Problemlösestrategien, die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung in sozialen Situationen, die Anregung von Perspektivenübernahme
Modul 2 „Affekte wahrnehmen und Gefühle differenzieren“
beinhaltet u. a.: Kennenlernen von Grundgefühlen, Wahrnehmung affektiver Körperzustände, Lesenlernen von Gefühlsausdrücken
Modul 3 „Affekte kontrollieren und in Wutsituationen angemessen reagieren“
beinhaltet u. a.: Intensitäten von Gefühlen einschätzen, alternative Handlungsstrategien erarbeiten und erproben, Unterschiede affektiver Wahrnehmung kennenlernen
Modul 4 „Moralisches Denken“
beinhaltet u. a.: Kennenlernen von sozialen Rahmenentwürfen, Auseinandersetzung mit Dilemmata, Diskutieren von Regeln, Normen und Werten
Modul 5 „Freies Training“
beinhaltet u. a.: individuelle Themen der Klasse, die in einer Zwischenzeit der Erprobung aufgetaucht sind; einzelne Aspekte wie bspw. Affektwahrnehmung, Problemlösung, Perspektivenübernahme können nach Bedarf wiederholt oder vertieft werden, ggf. können bis dahin entstandene Situationen oder Konflikte unter Berücksichtigung des Erlernten erneut besprochen werden
Das Denkzeit-Kompetenzcoaching ist ein psychodynamisch-pädagogisches Angebot für junge Menschen, die aufgrund entwicklungs- und/oder krisenbedingter, psychosozialer Schwierigkeiten im Schulkontext auffällig werden und von einem intensiven Beziehungsangebot im Einzelsetting profitieren.
Grundlage des Coachings ist die Pädagogische Interaktionsdiagnostik, mit deren Hilfe die individuellen Fähigkeiten der Selbst- und Beziehungsregulierung eingeschätzt werden, um darauf basierend gezielt zu intervenieren. Im Hinblick auf die Demokratiefähigkeit der Schüler:innen sind einige Funktionen, in Überschneidung mit den Ergebnissen von Beelmann und Lutterbach (2023), besonders zentral. Dazu zählen zum Beispiel die Stabilität des Selbstwertgefühls und das Selbstbild, die Mentalisierungsfähigkeit, aber auch der Umgang mit realer Schuld und Schuldgefühl oder die Fähigkeit wechselseitige, krisenfeste Beziehungen zu gestalten. Für den überwiegenden Teil radikalisierungsgefährdeter oder bereits radikalisierter junger Menschen ist anzunehmen, dass eine psychosoziale Reife oder notwendige Nachreifung die Grundlage für Demokratiekompetenz darstellt.
Das Kompetenzcoaching ist zeitlich und inhaltlich flexibel ausgerichtet, d.h. es kann sowohl akut unterstützend in destabilisierenden Krisensituationen über einen kürzeren Zeitraum als auch im Rahmen gravierender Entwicklungsverläufe länger und intensiver (z. B. ein Schulhalbjahr) zum Einsatz kommen.
Geeignet ist das Training für Schüler:innen, die z.B. wiederholt provozieren, stören oder in gewaltsame Konflikte geraten, die sich schwer damit tun andere Perspektiven zu erkennen und/oder auszuhalten und/oder die kaum wechselseitige und krisenfeste Beziehungen eingehen können. Ausgelegt ist das Kompetenzcoaching auch für Schüler:innen, die bereits erste Straftaten begangen haben, die sich in besorgniserregendem Maße radikalen oder extremistischen Inhalten und/oder Gruppen zuwenden, die aufgrund ihres Seins fortlaufend (Beziehungs-)Abbrüche erleben und/oder die sich in akuten, destabilisierenden Krisen befinden und dadurch besonders vulnerabel sind. Im Einzelsetting mit einem bzw. einer entsprechend qualifizierten Trainer:in werden Einschränkungen in der Selbst- und Beziehungsregulierung mittels Pädagogischer Interaktionsdiagnostik ermittelt, um nachfolgend gezielt an einzelnen Themen zu arbeiten. Im Vordergrund steht die Gestaltung einer positiven und korrigierenden Beziehung, in der notwendige, innere Veränderungen möglich werden. Ergänzt wird die klient:innenzentrierte Arbeit durch Beratung und Begleitung relevanter Akteur:innen aus dem sozialen Umfeld (z.B. Lehrkräfte oder Eltern).
Cathalina Kluge
Projektleitung Denkzeit-Angebote in Niedersachsen
Telefon: 030. 689 15 666
E-Mail: kluge@denkzeit.com